Donnerstag, 20. November 2014

FHP: Freie Hartz IV Presse
Armutsforscher C. Butterwege nennt Hartz IV -"Sklavenhalterideologie"
Interview;
Hartz IV veränderte die Republik. Heute gelten Gerhard Schröders Arbeitsmarktreformen als Grund für Deutschlands Stabilität in der Krise. Armutsforscher Christoph Butterwegge hält das für großen Hohn.

Herr Butterwegge, am 1. Januar 2015 ist es zehn Jahre her, dass Hartz IV eingeführt wurde. Ein Grund zum Jubeln oder zum Verzweifeln?
Wir sind hier nicht im alten Rom. Der Gesetzgeber gibt gewisse Mindeststandards in puncto Beschäftigung vor. Wir haben mittlerweile Rekordbeschäftigung – ist das nicht sozial?

Butterwegge: Durch die Hartz-Gesetze wurde nicht bloß der Sozialstaatsgedanke torpediert, vielmehr auch die Idee der Leistungsgerechtigkeit konterkariert. Hartz IV war für mich das Ende der Sozialen Marktwirtschaft.

Ist nicht sozial, was Arbeit schafft?

Butterwege: Das ist für mich eine Sklavenhalterideologie. Egal welche Arbeitsbedingungen und welche Lohnhöhe – selbst der mieseste Job wäre dann ja sozialer als Arbeitslosigkeit. Dieser Slogan der Initiative "Neue Soziale Marktwirtschaft" sagt – extrem ausgelegt – nichts anderes, als dass; ein Sklavenhalter im alten Rom sozial war, weil er Arbeit geschaffen hat.

Nun sind wir hier nicht im alten Rom. Der Gesetzgeber gibt gewisse Mindeststandards in puncto Beschäftigung vor. Wir haben mittlerweile Rekordbeschäftigung – ist das nicht sozial?

Butterwege: Die vermeintliche Halbierung der Arbeitslosigkeit seit dem 1. Januar 2005 wird sicher als großer Erfolg gefeiert. Sieht man aber genauer hin, stellt man fest: Das Arbeitsvolumen hat seit der Jahrtausendwende gar nicht zugenommen. Es ist nur anders verteilt worden. Heute gibt es mehr prekäre Beschäftigung, mehr Leiharbeit und mehr nicht immer gewollte Teilzeit.

Ist es nicht besser in Leiharbeit zu sein, als ganz ohne Arbeit?

Butterwege: Ich sehe keinen Fortschritt darin, wenn mehr Menschen beschäftigt sind, aber die Qualität der Arbeit fast aller stark gelitten hat. Leistungs- und Konkurrenzdruck haben zugenommen – nicht nur auf die Langzeitarbeitslosen, sondern auch auf die Belegschaften, die Betriebsräte und die Gewerkschaften. Rot-Grün hat in Deutschland einen ausufernden Niedriglohnsektor geschaffen und war stolz darauf.

Aber so sind Jobs entstanden, die es bei höheren Löhnen nicht gäbe. Betrachten wir etwa Frankreich: Während sich die Arbeitslosigkeit hierzulande halbiert hat, hat sie dort die zehn Prozent-Marke geknackt – die Arbeit ist zu teuer, das Land nicht konkurrenzfähig.

Butterwege: Die Konkurrenzfähigkeit deutscher Unternehmen hat durch Hartz IV zweifellos zugenommen. Das hatte aber problematische Nebenwirkungen. Die südeuropäischen EU-Länder sind von der Bundesrepublik geradezu niederkonkurriert worden. Das gilt besonders für Griechenland, für Portugal und für Spanien, aber auch für Frankreich.
"Steigende Konkurrenzfähigkeit löst die Probleme nicht"


Ist das nicht eine etwas komische Sicht? Schließlich konkurriert Deutschland nicht nur mit seinen Nachbarländern, sondern mit der ganzen Welt. Den südeuropäischen Ländern mangelt es an Wettbewerbsfähigkeit. Sie brauchen kein schwächeres Deutschland, sondern Strukturreformen.

Butterwege:
Der neoliberale Irrglaube, es komme nur darauf an, die Konkurrenzfähigkeit aller Länder zu steigern, löst die Probleme der Weltwirtschaft nicht, sondern läuft auf ein reines Nullsummenspiel hinaus. Dabei lässt man die Finanzierungsschwierigkeiten der sogenannten Krisenländer außer Acht. Die betroffenen Südeuropäer können ihre Importe nicht mehr bezahlen, weshalb sie Kredite aufnehmen, für die wir letztlich mithaften, und so gerät der Euro unter Druck. Das schlägt alles auf uns zurück. Selbst wenn die Arbeitslosigkeit hierzulande durch Hartz IV gesunken ist, haben wir sie im Grunde nur durch Senkung der Lohnstückkosten in andere Länder exportiert. Daneben gibt es aber auch ganz direkte negative Folgen für Deutschland.

Zum Beispiel?

Butterwege: Die sogenannten Erwerbsaufstocker …
… Angestellte, deren Gehalt so niedrig ist, dass es auf das Hartz-IV-Niveau aufgestockt werden muss.
Inzwischen gibt es konstant 1,3 Millionen Aufstocker. Dafür gab die Bundesregierung seit 2005 allein 75 Milliarden Euro aus. Das sind Subventionen vom Staat, die Unternehmer belohnen, die Lohndumping betreiben und Löhne zahlen, die nicht existenzsichernd sind.

Gäbe es diese Stellen denn überhaupt, würden sie nicht „subventioniert“? Vielfach würden sich diese Stellen für den Arbeitgeber nicht lohnen, weil sie nicht produktiv genug sind. Außerdem: Der Staat muss, statt 800 Euro für einen Erwerbslosen zu zahlen, an über eine Million nur einen Teil dieser Summe überweisen.

Butterwege: Ein gutes Beispiel für das Problem, das mit dem Aufstocken einhergeht, ist die Postbranche. Die Briefträger bei der ehemaligen Bundespost sind sehr gut entlohnt worden. Mittlerweile wurden ihre Stellen vielfach durch Billiganbieter verdrängt, die oft durch Hartz IV staatlicherseits subventionierte Löhne zahlen. Da fällt eine sozialversicherungspflichtige Stelle weg und bei Konkurrenten der Deutschen Post entstehen mehrere prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Zu welchem Zweck? Die offizielle Statistik wird geschönt – wir haben weniger Arbeitslose. Die Qualität nimmt nicht zu, und als Konsument muss ich womöglich am selben Tag mehreren verschiedenen Briefboten die Tür öffnen.

Hatte nicht das „Fördern und Fordern“ und der von Ihnen bereits angeführte höhere Druck seinen Anteil daran hatte, dass die Arbeitslosigkeit zurückging?

Butterwege: Nein! „Fördern und Fordern“ war ein Werbeslogan, mit dem Gerhard Schröder und seine rot-grüne Koalition das unter dem Kürzel „Hartz IV“ bekannte Gesetzespaket der Öffentlichkeit nahe gebracht haben. Seit die Hartz-Kommission im Frühjahr 2002 eingesetzt wurde, sind die Zahlen der Teilnehmer an Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung drastisch gesunken. Die Schröder-Regierung hat mit Hartz IV eine Drohkulisse aufgebaut und ein wirksames Disziplinierungsmittel geschaffen, um nicht bloß Langzeiterwerbslosen stärkere Daumenschrauben anzulegen.

Nun sind wir nicht Norwegen. Wir haben kein Erdöl und keine Rohstoffvorkommnisse, mit denen wir Arbeitsunwillige alimentieren können. Braucht es da nicht Druck?

Bitterwege: Die Verpflichtung, seinen Lebensunterhalt zu erarbeiten, hat jeder Mensch, wenn er dazu in der Lage ist. Deswegen bin ich auch ein Gegner des bedingungslosen Grundeinkommens. Es kann schließlich nicht die Aufgabe des Sozialstaates sein, allen Erwerbsfähigen, die sich durch Berufstätigkeit selbst ernähren können, eine Transferleistung zu zahlen.

Aber?

Butterwege; Hartz IV geht darüber weit hinaus: Auch wer ohne eigenes Verschulden auf dem Arbeitsmarkt keine für ihn geeignete Stelle findet, wird zu Gegenleistungen verpflichtet und mit Sanktionen bedroht. Wenn die Regierung aber jenen Druck, den sie mittels Hartz IV auf Erwerbslose und Arbeitnehmer ausgeübt hat, Personalchefs und Unternehmern gemacht hätte, wären sehr viel mehr Arbeitsplätze geschaffen worden.

Die allerdings nicht zwingend wirtschaftlich wären.

Butterwege: Was ich sagen will;
Hinter Hartz IV steckt die Philosophie, wonach Schuld an der Arbeitslosigkeit die Erwerbslosen selbst sind, weil sie sich in der Hängematte des Sozialstaates ausruhen. Das ist jedoch eine Fehlannahme. Fast alle Arbeitslosen würden nicht nur des Geldes wegen, sondern auch der gesellschaftlichen Anerkennung wegen gern einer Arbeit nachgehen – einer, die ihren beruflichen Qualifikationen entspricht. Was die Betroffenen aber entwürdigt und erniedrigt: Sie sollen jeden x-beliebigen Job annehmen. Das halte ich mit dem Grundgesetz für unvereinbar.


Die Richter in Karlsruhe sahen das in Ihrem Urteil im Februar 2010 anders. Sie äußerten keinen grundsätzlichen Zweifel an Hartz IV, nur an einzelnen Aspekten der Ausgestaltung. Sie forderten etwa eine Korrektur des Existenzminimums nach oben.

Butterwege: Ich gehe weiter als die Verfassungsrichter, deren Urteil nicht der alleinige Maßstab sein kann. Ich interpretiere die Verfassung so, dass die in Artikel 1 des Grundgesetzes als Kardinalnorm verankerte Menschenwürde und das Sozialstaatsgebot in Artikel 20 es beispielsweise ausschließen, dass einem Unter-25-Jährigen, der sich zwei Pflichtverletzungen zuschulden kommen lässt, alle Zuwendungen gestrichen werden. Ihm werden auch Miete und Heizkosten nicht mehr erstattet. An diesem Punkt produziert der „Sozialstaat“ regelrecht Obdachlosigkeit.

Nachdem das Bundesverfassungsgericht Hartz IV grundsätzlich für legitim erklärt hat, wird es uns wohl auch im kommenden Jahrzehnt begleiten. Bleibt die Frage, wie es gerechter gestaltet werden kann? Arbeitsministerin Andrea Nahles etwa will Unternehmer dazu bringen, Langzeitarbeitslose einzustellen. Dafür soll der Bund 75 Prozent des Gehalts übernehmen und den Langzeitarbeitslosen einen Coach an die Seite stellen.

Butterwege: Auch hier wird wieder so getan, als wären die Langzeiterwerbslosen selbst schuld an ihrem Schicksal – ihnen wird ein Coach an die Seite gestellt, als handle es sich um eine sportliche Herausforderung, der mit einem Trainer besser zu begegnen sei. Das von Ihnen angesprochene Programm würde den Arbeitslosen kaum etwas bringen, weil es ja nicht die strukturellen Bedingungen für ihre Lage ändert. Solche kurzatmigen Maßnahmen, die nur einige, ausgewählte Langzeitarbeitslose erreichen, helfen nicht.

Immerhin will Nahles mittelfristig rund 150 Millionen Euro pro Jahr lockermachen und bis zu 10.000 Langzeitarbeitslose könnten davon profitieren.

Butterwege: Das heißt ein Prozent! Das eigentliche Problem besteht aber darin, dass der Arbeitsmarkt bestimmte Gruppen von Erwerbslosen aussondert – etwa Menschen mit gesundheitlichen oder psychischen Beeinträchtigungen.

Sie sind wegen der Hartz-Reformen aus der SPD ausgetreten. Welche Maßnahmen müsste Nahles durchführen, damit Sie der SPD wieder beitreten würden? Welche Maßnahmen könnten helfen?

Butterwege: Sie müsste Selbstkritik an ihrer Regierungspolitik üben und die Hartz-Reformen rückabwickeln. Auch sollte sich die Partei für einen Mindestlohn in angemessener Höhe und ohne zahlreiche Ausnahmen einsetzen. Ich sehe bisher aber nicht, dass die SPD wieder an ihre alte Parteitradition der Herstellung sozialer Gerechtigkeit anknüpft.

Das klingt alles recht unwahrscheinlich. Also wird man sie wohl nicht allzu schnell bei der SPD wiederfinden.

Butterwege: Danach sieht es derzeit tatsächlich kaum aus. Ich werde jedoch auch keiner anderen Partei beitreten, sondern fühle mich als parteiloser Wissenschaftler ganz wohl. Als linker Sozialdemokrat ist man ja schon länger daran gewöhnt, politisch heimatlos zu sein.
(Quelle: wiwo.de)
 
 

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