Freitag, 11. April 2014

 
Abschaffung der Sanktionen: Antrag der Linken vom 09.04.2014:

Deutscher Bundestag
Drucksache 18/ 1115
18. Wahlperiode
09.04.2014
Antrag
der Abgeordneten Katja Kipping, Sabine Zimmermann (Zwickau),
Matthias W. Birkwald, Thomas Lutze, Azize Tank, Kathrin Vogler,
Harald Weinberg, Birgit Wöllert, Pia Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.
Sanktionen bei Hartz IV und Leistungseinschränkungen bei der Sozialhilfe ab-
schaffen
Der Bundestag wolle beschließen:
I.
Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Das menschenwürdige Existenzminium ist durch das Grundgesetz verfassungs-
rechtlich geschützt. Es ergibt sich aus der Menschenwürde in Verbindung mit
dem Sozialstaatsgebot (BVerfG 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010). Die Menschenwür-
de nach Art. 1 Abs.1 des Grundgesetzes (GG) begründet den Leistungsanspruch.
Das Sozialstaatgebot erteilt dem Gesetzgeber den Auftrag, jedem ein men-
schenwürdiges Existenzminimum zu sichern. Der konkrete Leistungsumfang ist
durch den Gesetzgeber auf der Grundlage einer Bedarfsberechnung festzulegen.
Mit dieser Festlegung konkretisiert der Gesetzgeber - sofern diese Ermittlung
ihrerseits verfassungskonform vollzogen wurde - das Grundrecht auf ein men-
schenwürdiges Existenzminimum. Das Grundrecht auf Gewährleistung eines
menschenwürdigen Existenzminimums ist „dem Grunde nach unverfügbar“ (Nr.
133) und der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er
„stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grund-
rechtsträgers deckt“ (Nr. 137).
In Deutschland erfolgt die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzmi-
nimums über die Sicherungssysteme Hartz IV und Sozialhilfe (gemäß dem
Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch). Mit dem Grundrecht auf Ge-
währleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums sind gesetzliche Re-
gelungen unvereinbar, die zu einer Unterschreitung des Existenzminiums füh-
ren. Sanktionen in Form einer Minderung oder eines vollständigen Wegfalls der
Leistungen (Zweites Buch Sozialgesetzbuch) und Leistungseinschränkungen
(Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch) führen aber zu einer Unterschreitung des
gesetzlich festgelegten menschenwürdigen Existenzminimums. Ebenso wie das
Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums
nicht „migrationspolitisch“ zu relativieren ist - so das Bundesverfassungsgericht
in dem Urteil zum Asylbewerberleistungsgesetz (BVerfG vom 18.7.2012 - 1
BvL 10/10, 1 BvL 2/11, Absatz-Nr. 121) -, darf es „arbeitsmarktpolitisch“ nicht
relativiert werden, indem jenseits der Bedürftigkeit ein bestimmtes Verhalten
Vorabfassung - wird durch die lektorierte Version ersetzt.
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der Leistungsberechtigten zur Voraussetzung des Leistungsbezugs gemacht wird
(vgl. Wolfgang Neskovic/Isabel Erdem: Zur Verfassungswidrigkeit von Sankti-
onen bei Hartz IV - zugleich eine Kritik am Bundesverfassungsgericht, in: SGb
2012, 134-140; Wolfgang Neskovic: Sanktionen im SGB II - nur problematisch
oder verfassungswidrig? Thesen zu einem Streitgespräch, in: info also 2013,
205f.).
Sanktionen und Leistungseinschränkungen im Sozialrecht sind der Ausdruck
eines Sozialstaats, der in dieser Hinsicht als paternalistischer Erziehungsstaat
agiert. Insofern sind Sanktionen und Leistungseinschränkungen Überbleibsel
einer armenrechtlichen Tradition des Arbeitshauses und der Disziplinierung zu
Wohlverhalten, die bis heute weiterwirkt. In dieser Tradition werden leistungs-
berechtigte Menschen als Erziehungsbedürftige angesehen. Mit einem demokra-
tischen Sozialstaat, der von Rechtsansprüchen der Bürgerinnen und Bürgern
ausgeht, ist dieses Denken unvereinbar.
Sanktionen und drohende Leistungseinschränkungen zielen auch auf die Mitte
der Gesellschaft und führen zu Ängsten und Verunsicherung bei den Beschäftig-
ten. Der Druck, auch niedrig bezahlte Beschäftigung anzunehmen, hat prekäre
Beschäftigungsformen auf dem Arbeitsmarkt verfestigt und führt zu niedrigen
Löhnen. Die Handlungsfähigkeit der Interessenvertretungen der Beschäftigten
und der Gewerkschaften wird geschwächt.
Nicht nur aus den Perspektiven von Demokratie und Verfassungsrecht sind
Sanktionen und Leistungseinschränkungen abzulehnen. Es gibt darüber hinaus
keinerlei Belege für eine arbeitsmarktpolitisch sinnvolle Wirkung. Die SGB-II-
Leistungsberechtigten sind bereits jetzt vielfältig aktiv: sie gehen Erwerbsarbeit
nach, sie pflegen und betreuen Kinder, Eltern, Kranke und / oder sind ehrenamt-
lich tätig. Die Bereitschaft zur Erwerbsarbeit muss und kann nicht durch Sankti-
onen oder Leistungseinschränkungen erzwungen werden. Die Motivation zur
Erwerbsarbeit ist in aller Regel vorhanden. Wo Sanktionen vorgenommen wer-
den, führen sie nicht zu wünschenswerten Verhaltensänderungen. Im Gegenteil:
Vertrauen in die Jobcenter geht verloren und teilweise brechen Sanktionierte den
Kontakt mit den Jobcentern ganz ab (vgl. Klaus Dörre u.a.: Bewährungsproben
für die Unterschicht. Soziale Folgen aktivierender Arbeitsmarktpolitik, Frank-
furt am Main 2013; Helmut Apel, Dietrich Engels: Unabhängige wissenschaftli-
che Untersuchung zur Erforschung der Ursachen und Auswirkungen von Sank-
tionen nach § 31 SGB II und nach dem SGB III in NRW, 2013).
Erwerbslosigkeit ist entgegen der Unterstellung des Aktivierungsansatzes nicht
das Ergebnis von „falschem“ Verhalten der Arbeitsuchenden, das durch Sankti-
onen geändert werden könnte, sondern hat ihre Ursache in den strukturellen
Problemen des Kapitalismus. Das arbeitsmarktpolitische Paradigma der „Akti-
vierung“ individualisiert dagegen gesellschaftliche Probleme. Auf diese Art und
Weise werden die Opfer des Arbeitsmarktes zu „Tätern“ umgedeutet. Außerdem
werden Leistungsbeziehende mit Sanktionsandrohungen in Jobs mit schlechten
Löhnen und Arbeitsbedingungen gezwungen (IAB-Kurzbericht 15/2010). Hartz
IV Leistungsberechtigte sind wehrlos gegenüber den Zumutungen ausbeuteri-
scher Arbeitsverhältnisse. Dies führt auch zur Disziplinierung aller Beschäftig-
ten. Aus Angst vor Jobverlust mit anschließendem Bezug von Hartz IV-
Leistungen sind sie bereit, Verschlechterungen von Löhnen und Arbeitsbedin-
gungen zu akzeptieren.
Durch die Minderung bzw. den vollständigen Wegfall von Leistungen nach dem
Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und Leistungseinschränkungen nach dem
Zwölften Buch Sozialgesetzbuch wird das menschenwürdige Existenzminimum
unterschritten oder sogar komplett vorenthalten. Selbst die Wohnkosten werden
nicht verschont. Junge Erwachsene werden besonders häufig und drastisch sank-
tioniert.
Vorabfassung - wird durch die lektorierte Version ersetzt.
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Das Sanktionsrecht verbreitet Angst und Existenznot unter den Betrof-
fenen. Es untergräbt ihre Würde, weil sie zu Objekten der staatlichen Bürokratie
degradiert werden.

Sanktionierte haben nur selten die Möglichkeit, die finanziellen Einbußen zu
überbrücken. Soziale Isolierung und Verelendung sind daher die Folge: Diese
zeigt sich in einer massiven Verschlechterung des Gesundheitszustandes, einer
zunehmenden Verschuldung und einem spürbaren Anstieg der Wohnungslosig-
keit der betroffenen Personen. Insbesondere bei den Unter-25 jährigen wird die
Zunahme der Wohnungslosigkeit in einen ursächlichen Zusammenhang mit den
Hartz IV Regelungen gebracht (BAG Wohnungslosenhilfe, Pressemitteilung
vom 28.1.2008). Sanktionen „aktivieren“ die Betroffenen in einer äußerst un-
produktiven Art und Weise: Die Sanktion zieht einen „Überlebenskampf“ nach
sich, der Zeit und Energie vollständig bindet. Viele, insbesondere junge Er-
werbslose, brechen ihren Kontakt zu den zuständigen Behörden ab. Damit ver-
schwinden diese Personen sowohl aus der Statistik als auch den öffentlichen
Unterstützungssystemen. (Anne Ames: Ursachen und Auswirkungen von Sank-
tionen nach § 31 SGB II, NDV 3/2100, S. 11ff.; Berliner Kampagne gegen
Hartz IV: Wer nicht spurt, kriegt kein Geld, Sanktionen gegen Hartz-IV-
Beziehende. Erfahrungen, Analysen, Schlussfolgerungen. Berlin 2008).
Eine sanktionsfreie Mindestsicherung beseitigt die grundrechtswidrige Möglich-
keit der Unterschreitung des Existenzminimums, beugt sozialen Verwerfungen
vor und stärkt die Würde der Leistungsberechtigten. Eine sanktionsfreie Min-
destsicherung macht die Leistungsberechtigten zu handlungsfähigen Subjekten
gegenüber den Behörden und auf dem Arbeitsmarkt. Die Träger der Sozialleis-
tungen müssen den Leistungsberechtigten attraktive und individuell angemesse-
ne Angebote machen, um von den Leistungsberechtigten als konkrete Hilfe
angesehen zu werden. Die Organisation und die Instrumente der Sozialleistungs-
systeme sind stärker an den Bedürfnissen der Leistungsberechtigten auszurich-
ten.
Der Bundestag begrüßt aus den genannten Gründen gesellschaftliche Aktivitäten
und Initiativen, die die Abschaffung aller Sanktionsmöglichkeiten im Zweiten
Buch Sozialgesetzbuch und aller Möglichkeiten von Leistungseinschränkungen
im Zwölften Buch Sozialgesetzbuch befördern. Der Bundestag begrüßt aus-
drücklich die Petition von Inge Hannemann zur Abschaffung der Sanktionen
und Leistungseinschränkungen, die von rund 90.000 Menschen unterstützt wur-
de.
II.
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, einen Gesetz-
entwurf mit folgenden Kernpunkten vorzulegen:

1.
Im Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch werden sämtliche Sank-
tionen und Leistungseinschränkungen abgeschafft. Eine Unterschreitung
der Leistungen unter das Niveau der gesetzlich festgelegten Regelbedarfe
wird dadurch ausgeschlossen.
2.
Widersprüche und Anfechtungsklagen gegen einen Verwaltungsakt, der
Sanktionen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch feststellt, haben eine
aufschiebende Wirkung.

Berlin, den 9. April 2014
Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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