Montag, 1. Dezember 2014

Hartz IV Verschiebebahnhof
Alle großen Sozialverbände, Linke und Gewerkschaften machen Mobil
 
Raus aus Statistik, rein in Sozialhilfe:
Linke, Gewerkschaften und Sozialverbände fordern das Ende der Zwangsverrentung von Hartz-IV-Beziehern

Seit 2008 dürfen Jobcenter Hartz-IV-Bezieher im Alter von 63 Jahren vorzeitig in die Rente zwingen. Betroffene müssen für den Rest ihres Lebens hohe Abschläge hinnehmen. Am Montag wurden dazu im Bundesausschuss für Arbeit und Soziales Sachverständige gehört. Behandelt wurde ein Antrag der Linksfraktion vom Februar dieses Jahres. Sie verlangt darin, die sogenannte Zwangsverrentung abzuschaffen. Die Praxis entrechte Betroffene und lasse die Altersarmut weiter steigen, so die Antragsteller. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und Sozialverbände stellten sich geschlossen hinter dieser Forderung. Vertreter aus der Wirtschaft und der Bundesagentur für Arbeit (BA) hielten dagegen. Es sei »kein Massenphänomen«, hieß es. Michael Popp, Sprecher des Linke-Abgeordneten Matthias Birkwald, betonte jedoch gegenüber jW, dass die Koalition die Praxis derzeit in einer Arbeitsgruppe prüfe. »Es bestehen gute Chancen, sie zu kippen.«

Geregelt ist die Zwangsverrentung im Zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II). Danach müssen Hartz-IV-Bezieher vorrangig mit Leistungen anderer Träger vorlieb nehmen. Ab dem 63. Geburtstag fällt die Altersrente darunter. Im Juli erklärte die BA dazu: »Stellt der Betroffene den Antrag nicht von alleine, fordert ihn das Jobcenter dazu auf.« Notfalls könne das Amt ohne dessen Einwilligung tätig werden. Davon ausgenommen sei nur, wer im Begriff ist, eine neue Arbeitsstelle anzutreten, wer Arbeitslosengeld I bezieht und mit Hartz IV aufstockt oder wer nebenher sozialversicherungspflichtig beschäftigt ist.

Seit 2008 steigt die Zahl der frühen Zwangsrentner drastisch. Laut einer BA-Statistik lag sie im ersten Jahr bei knapp 800, 2013 bereits bei rund 2.700. Die Zahl könnte unaufhörlich weiter steigen. Denn wie die Bundesregierung im Sommer mitteilte, ist der Anteil der über 55jährigen im Hartz-IV-Bezug von 2008 bis 2013 von 15 auf 23,2 Prozent angewachsen. Für Betroffene bedeutet die vorzeitige Rente Verlust von 0,3 Prozent der gesetzlichen Altersbezüge pro Monat, insgesamt also derzeit bis zu 8,7 Prozent. Mit der »Rente ab 67« klettern die Abschläge künftig auf bis zu 14,4 Prozent. Vielen Hartz-IV-Beziehern droht dadurch ein lebenslanger Abstieg in die Sozialhilfe. Anspruch auf Grundsicherung im Alter haben sie erst ab Erreichen der Regelaltersgrenze. Das bedeutet: Sie müssen sämtliche Rücklagen bis auf 2.600 Euro aufbrauchen. Bei Hartz IV ist ein Freibetrag von 150 Euro pro Lebensjahr erlaubt. Außerdem können bei Inanspruchnahme von Sozialhilfe Kinder in Regress genommen werden. »So werden die sozialen Kosten auf die Betroffenen abgewälzt«, kritisiert Die Linke. Dass deren Wille keine Rolle spielt, sei ein »Eingriff in die Grundrechte«. Ferner würden die Kommunen geschröpft. Sie müssten eine komplett neue, aufwendige Bedürftigkeitsprüfung vornehmen.

Der DGB pflichtete der Linksfraktion bei. Es handele sich »um einen gravierenden Eingriff in die Persönlichkeitsrechte« und einen »sozialen Verschiebebahnhof«. Die Arbeiterwohlfahrt forderte wie der Paritätische Gesamtverband ebenfalls ein Ende der »unsozialen Praxis«. Laut Caritas entzögen sich Jobcenter so ihrer Pflicht zur Eingliederung. Martin Brussig, Leiter der Forschungsabteilung Arbeitsmarkt – Integration – Mobilität der Universität Duisburg-Essen, monierte, die Zwangsverrentung bedeute für die Ämter einen teuren bürokratischen Aufwand, »der nicht ihrem Kerngeschäft entspricht«. Das Sozialgericht Dresden hatte einen Fall von Zwangsverrentung im Mai dieses Jahres bereits für rechtswidrig erklärt, weil das Jobcenter die Interessen der Klägerin negiert habe. Es sei darauf zu achten, dass die geminderte Rente nicht zu einem dauerhaften Sozialleistungsbezug führt.

Die BA, Landkreis- und Städtetag plädierten hingegen für Beibehaltung der Zwangsverrentung.

Der Bundesverband der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) meint, dass schließlich »jeder Arbeitslose im Alter weiterarbeiten« könne. Damit befindet sich letzterer auf Linie mit dem Präsidenten des IFO-Instituts, Hans-Werner Sinn. Der will die Altersgrenze gleich ganz kippen, wie er am Sonnabend in der Wirtschaftswoche forderte. Arbeitgebern gebühre ein »Rechtsanspruch« darauf, Arbeitsverhältnisse unbegrenzt fortzusetzen, so Sinn. Dadurch könnten Ältere etwa ihre Rente aufstocken. Ruhestandseintritte vor dem 65. Geburtstag würde Sinn am liebsten mit doppelt so hohen Abschlägen wie bisher bestrafen.
Quelle: jw.de / susanne bonath


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