Hartz IV Verschiebebahnhof
Alle großen Sozialverbände, Linke und Gewerkschaften machen Mobil
Raus aus Statistik, rein in Sozialhilfe:
Linke, Gewerkschaften und Sozialverbände fordern das Ende der Zwangsverrentung von Hartz-IV-Beziehern
Seit 2008 dürfen Jobcenter Hartz-IV-Bezieher im Alter von 63 Jahren vorzeitig
in die Rente zwingen. Betroffene müssen für den Rest ihres Lebens hohe
Abschläge hinnehmen. Am Montag wurden dazu im Bundesausschuss für Arbeit
und Soziales Sachverständige gehört. Behandelt wurde ein Antrag der
Linksfraktion vom Februar dieses Jahres. Sie verlangt darin, die
sogenannte Zwangsverrentung abzuschaffen. Die Praxis entrechte
Betroffene und lasse die Altersarmut weiter steigen, so die
Antragsteller. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und Sozialverbände
stellten sich geschlossen hinter dieser Forderung. Vertreter aus der
Wirtschaft und der Bundesagentur für Arbeit (BA) hielten dagegen. Es sei
»kein Massenphänomen«, hieß es. Michael Popp, Sprecher des
Linke-Abgeordneten Matthias Birkwald, betonte jedoch gegenüber jW, dass
die Koalition die Praxis derzeit in einer Arbeitsgruppe prüfe. »Es
bestehen gute Chancen, sie zu kippen.«
Geregelt ist die
Zwangsverrentung im Zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II). Danach müssen
Hartz-IV-Bezieher vorrangig mit Leistungen anderer Träger vorlieb
nehmen. Ab dem 63. Geburtstag fällt die Altersrente darunter. Im Juli
erklärte die BA dazu: »Stellt der Betroffene den Antrag nicht von
alleine, fordert ihn das Jobcenter dazu auf.« Notfalls könne das Amt
ohne dessen Einwilligung tätig werden. Davon ausgenommen sei nur, wer im
Begriff ist, eine neue Arbeitsstelle anzutreten, wer Arbeitslosengeld I
bezieht und mit Hartz IV aufstockt oder wer nebenher
sozialversicherungspflichtig beschäftigt ist.
Seit 2008 steigt
die Zahl der frühen Zwangsrentner drastisch. Laut einer BA-Statistik lag
sie im ersten Jahr bei knapp 800, 2013 bereits bei rund 2.700. Die Zahl
könnte unaufhörlich weiter steigen. Denn wie die Bundesregierung im
Sommer mitteilte, ist der Anteil der über 55jährigen im Hartz-IV-Bezug
von 2008 bis 2013 von 15 auf 23,2 Prozent angewachsen. Für Betroffene
bedeutet die vorzeitige Rente Verlust von 0,3 Prozent der gesetzlichen
Altersbezüge pro Monat, insgesamt also derzeit bis zu 8,7 Prozent. Mit
der »Rente ab 67« klettern die Abschläge künftig auf bis zu 14,4
Prozent. Vielen Hartz-IV-Beziehern droht dadurch ein lebenslanger
Abstieg in die Sozialhilfe. Anspruch auf Grundsicherung im Alter haben
sie erst ab Erreichen der Regelaltersgrenze. Das bedeutet: Sie müssen
sämtliche Rücklagen bis auf 2.600 Euro aufbrauchen. Bei Hartz IV ist ein
Freibetrag von 150 Euro pro Lebensjahr erlaubt. Außerdem können bei
Inanspruchnahme von Sozialhilfe Kinder in Regress genommen werden. »So
werden die sozialen Kosten auf die Betroffenen abgewälzt«, kritisiert
Die Linke. Dass deren Wille keine Rolle spielt, sei ein »Eingriff in die
Grundrechte«. Ferner würden die Kommunen geschröpft. Sie müssten eine
komplett neue, aufwendige Bedürftigkeitsprüfung vornehmen.
Der
DGB pflichtete der Linksfraktion bei. Es handele sich »um einen
gravierenden Eingriff in die Persönlichkeitsrechte« und einen »sozialen
Verschiebebahnhof«. Die Arbeiterwohlfahrt forderte wie der Paritätische
Gesamtverband ebenfalls ein Ende der »unsozialen Praxis«. Laut Caritas
entzögen sich Jobcenter so ihrer Pflicht zur Eingliederung. Martin
Brussig, Leiter der Forschungsabteilung Arbeitsmarkt – Integration –
Mobilität der Universität Duisburg-Essen, monierte, die Zwangsverrentung
bedeute für die Ämter einen teuren bürokratischen Aufwand, »der nicht
ihrem Kerngeschäft entspricht«. Das Sozialgericht Dresden hatte einen
Fall von Zwangsverrentung im Mai dieses Jahres bereits für rechtswidrig
erklärt, weil das Jobcenter die Interessen der Klägerin negiert habe. Es
sei darauf zu achten, dass die geminderte Rente nicht zu einem
dauerhaften Sozialleistungsbezug führt.
Die BA, Landkreis- und
Städtetag plädierten hingegen für Beibehaltung der Zwangsverrentung.
Der
Bundesverband der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) meint, dass
schließlich »jeder Arbeitslose im Alter weiterarbeiten« könne. Damit
befindet sich letzterer auf Linie mit dem Präsidenten des IFO-Instituts,
Hans-Werner Sinn. Der will die Altersgrenze gleich ganz kippen, wie er
am Sonnabend in der Wirtschaftswoche forderte. Arbeitgebern gebühre ein
»Rechtsanspruch« darauf, Arbeitsverhältnisse unbegrenzt fortzusetzen, so
Sinn. Dadurch könnten Ältere etwa ihre Rente aufstocken.
Ruhestandseintritte vor dem 65. Geburtstag würde Sinn am liebsten mit
doppelt so hohen Abschlägen wie bisher bestrafen.
Quelle: jw.de / susanne bonath
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