Donnerstag, 1. Mai 2014

Aktuelles Urteil: Sozialgericht Chemnitz kippt Eingliederungs-Verwaltungsakt im ER-Verfahren wegen viel zu langer Geltungsdauer

Das Sozialgericht Chemnitz hat im so genannten "ER-Verfahren" - "ER" steht hier für "Einstweiliger Rechtsschutz", der nach § 86b SGG beantragt werden kann -, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs (bis zum Entscheid im so genannten "Hauptsacheverfahren", also einer nach Ablauf des Widerspruchsverfahrens gegebenenfalls folgenden Anfechtungsklage) angeordnet, weil der Eingliederungs-Verwaltungsakt eine Geltungsdauer von MEHR ALS 9 MONATEN!! haben sollte.

Hier das Urteil des Sozialgerichts: http://euronia.com/images/pdfs/sozialgericht-chemnitz.pdf

Bemerkenswert ist hieran vor allem ein Satz aus dem Urteil, der bereits auf ein sehr intelligentes Klageverfahren hinweist: "Der auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des zugleich mit dem Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz eingelegten Widerspruches gegen den Verwaltungsakt vom 09.04.2014 gerichtete Antrag ist zulässig und begründet."

Der Kläger hat hier also ZEITGLEICH Widerspruch eingelegt und PARALLEL SOFORT geklagt.


Diese Taktik ist natürlich WESENTLICH besser, als sich erst langwierig mit dem Jobcenter im Widerspruchsverfahren zu streiten. 


Gemäß § 88 Absatz 2 SGG hat das Jobcenter nämlich gegebenenfalls bis zu 3 Monate!
Zeit, über den Widerspruch zu entscheiden, und es wäre nicht das erste Mal, dass das Jobcenter diese Zeit auch nur deswegen ausnutzt, um einen auch offensichtlich rechtswidrigen Verwaltungsakt - wie er in diesem Fall deutlich vorlag - schlicht und einfach über mindestens diesen Zeitaum "hinweg zu retten" und dann mal wieder die beliebten "Sanktionen" zu versuchen.

Im vorliegenden Fall vergingen vom Erlass des Verwaltungsaktes bis zu seiner vorläufigen Aufhebung bzw. Nicht-Vollziehbarkeit aber ganze 20 Tage!!!
Eine "Nichtigkeitsfeststellungsklage" - ist also außerordentlich effizient!

WICHTIG: diese Klageart "funktioniert" NUR, wenn Ihr den Widerspruch ZUSAMMEN mit der Klage ans SG schickt. Intelligenterweise wird hier gleich beantragt, die Klage gleichzeitig als Widerspruch umzudeuten und zuzulassen. Dann spart Ihr Euch einen separaten Widerspruch KOMPLETT.

Wenn Ihr den Widerspruch auch nur separat ans JC abschickt, wird das Gericht diese spezielle Feststellungsklage aus FORMALEN GRÜNDEN ablehnen, da eine Feststellungsklage IMMER "nachrangig", d. h., erst zulässig ist, nachdem alle anderen möglichen Klagearten bereits ausgeschöpft wurden.

Nur WEIL VORHER kein separater Widerspruch ans Jobcenter abgeschickt wurde, ist diese Klage überhaupt zulässig, WEIL unter diesen Umständen die "normale" Anfechtungsklage, die erst NACH Durchlaufen des Widerspruchsverfahrens statthaft ist, nicht möglich ist.

(Hinweis: natürlich wäre es auch möglich gewesen, einen "normalen" Widersrpuch ans Jobcenter zu schicken und PARALLEL die aufschiebende Wirkung nach § 86b SGG beim Sozialgericht zu beantragen. Wozu sich aber zweimal bemühen? Außerdem hat das Verfahren mit der Feststellungsklage auch noch einen psychologisch-taktischen Vorteil: das Jobcenter erfährt ERSTMALIG über das Sozialgericht, dass überhaupt Widerspuch erhoben wurde. Das freut die gleich mal richtig

Ich möchte Euch auch nicht die Reaktion der RECHTSABTEILUNG des Jobcenters vorenthalten, weil die mal wieder so typisch ist, wie sie typischer nicht sein könnte: das Jobcenter, bzw. hier der zuständige Jurist (der "irgendwann mal" Jura studiert hat), schert sich offensichtlich überhaupt nicht um Recht und Gesetz: http://euronia.com/images/pdfs/jobcenter-mittelsachsen.pdf

Bemerkenswert ist zunächst, dass der Kläger versuchte, mit dem Jobcenter über die EGV zu VERHANDELN.

Das Jobcenter stufte - wie üblich - seine Vorschläge anscheinend wohl als "unakzeptabel" ein (richtiges Deutsch wäre hier bereits "inakzeptabel", aber in einem Land, in dem die Amtssprache angeblich Deutsch ist und Jobcenter dann trotzdem Jobcenter heißen, muss man sich auch nicht mehr darüber wundern, dass die Jobcenter-Mitarbeiter kaum noch richtig Deutsch können) und erließ "folgerichtig" den Eingliederungs-Verwaltungsakt.

OBWOHL der Kläger bereits in seinen Anträgen auf die OFFENSICHTLICHE Rechtswidrigkeit dieses Verwaltungsaktes wegen der deutlich zu langen Geltungsdauer UND ein entsprechendes Urteil des Bundessozialgerichts hinwies - die ja dann auch genau vom Sozialgericht mit eben diesem Urteil bestätigt wurde - schließt der formidable Jobcenter-Jurist seine "rechtlichen" Ausführungen mit dem Satz: "Der Antragsgegner sieht keine Möglichkeit, seine Entscheidung abzuändern oder aufzuheben."

Da bleibt mir wieder nur zu sagen: Bravo, Jobcenter! Wieder eines mehr, das meinen lange gehegten Verdacht, dass Jobcenter bundesweit sogar eindeutig festgelegtes SGB-Recht jederzeit (absichtlich?) mit Füssen treten, eindrucksvoll bestätigt.

Das angesprochene BSG-Urteil findet Ihr hier. "http://euronia.com/images/pdfs/BSG%20B%2014%20AS%20195.pdf"

Es wird aber noch besser: Der Kläger bemängelte u. a. folgendes: [Die] "Tatsache, dass der Beklagte im angefochtenen EGV-VA mit folgender Formulierung unter Umgehung sämtlicher Regularien des Rechtsstaates und der Rechtssicherheit versucht, aus einer ursprünglich mit "nur" 10% sanktionierbaren "Pflichtverletzung" ohne jede Not eine 30% Sanktion zu konstruieren: "Ich erscheine zu jeglichen Meldeterminen im Jobcenter Mittelsachsen Standort Freiberg pünktlich und zuverlässig. Sollten ich Termine nicht wahrnehmen können, bin ich verpflichtet meinen zuständigen Arbeitsvermittler vorab eine Information darüber zu geben. Ebenfalls wurden ich belehrt, dass Termine nur aus wichtigen Gründen nicht wahrgenommen werden müssen" etc." (Beachtet hier wieder mal das "Deutsch" des Jobcenters: Grammatik und Interpunktion aus meiner Sicht eine glatte "Fünf")

Diesen schwerst rechtswidrigen und aus meiner Sicht bereits an "Nötigung" grenzenden Passus (schaut Euch aber den "Nötigungs-Strafrechtsparagraphen GENAU an; der trifft hier, so bedauerlich das aus meiner Sicht ist, NIEMALS zu) versucht das Jobcenter nun auf einmal als "Hinweis" umzudeuten und zu verniedlichen. Hilfloser geht´s nimmer, oder doch?

Doch, es geht sogar noch hilfloser: Nahezu SÄMTLICHE Verpflichtungen des Jobcenters - immerhin sprechen wir FORMAL von einer angeblichen Vereinbarung als Grundlage des Eingliederungs-Verwaltungsaktes - waren - typischerweise - als "Kann-Bestimmungen" ausgeführt oder anderweitig niemals einklagbar formuliert, beispielsweise mit den "berühmten" Jobcenter-Floskeln "angemessen", "sofern möglich" etc. etc.

Hier erdreistet sich das Jobcenter nun sogar zu folgender Aussage: "Durch die zuständige Arbeitsvermittlerin waren dem Antragsteller keine Förderteislungen nach § 16 Abs. 1 SGB II zugesichert worden. Aus vermittierischer Sicht bestand dazu keine Notwendigkeit bzw. keine Zweckmäßigkeit. Im Rahmen ihrer Aufklärungs- und Beratungspflicht im Sinne von §§ 13, 14 Erstes Buch (SGB I) wies sie den Antragsteller jedoch auf mögliche, zu beantragende Förderietslungen hin."

Das Jobcenter ist hier also sogar der Meinung, ÜBERHAUPT keine Gegenleistungen erbringen zu müssen, ja es bestand dazu noch nicht einmal eine "Notwendigkeit" bzw. "Zweckmäßigkeit". Da das Jobcenter aber keinesfalls in den - insgesamt mehr als gerechtfertigten Verdacht - kommen möchte, Recht zu missachten, hat es nun sogar quasi freiwillig und aus reiner "Nettigkeit" seine "Aufklärungs- und Beratungspflicht im Sinne von §§ 13, 14 Erstes Buch (SGB I)" wahrgenommen.

WAS FÜR EIN ARMUTSZEUGNIS.

Also, die Moral von der Geschicht:

Prüft Eure Eingliederungs-Verwaltungsakte SEHR SORGFÄLTIG auf mögliche Rechtsmängel. Selbst im Jahre 10 nach Einführung von "Hartz-IV" sind die anscheinend IMMER NOCH AN DER TAGESORDNUNG.

Je rechtswidriger die Jobcenter immer noch agieren zu können glauben, desto besser für uns, weil sie es uns damit absolut leicht machen, uns einen Teil Freiheit wieder zurück zu holen...
(Quelle: euronia.com)

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