Aktuelles Urteil: Sozialgericht Chemnitz kippt Eingliederungs-Verwaltungsakt im ER-Verfahren wegen viel zu langer Geltungsdauer
Das Sozialgericht Chemnitz hat im so genannten "ER-Verfahren" - "ER" steht hier für "Einstweiliger Rechtsschutz",
der nach § 86b SGG beantragt werden kann -, die aufschiebende Wirkung
des Widerspruchs (bis zum Entscheid im so genannten
"Hauptsacheverfahren", also einer nach Ablauf des Widerspruchsverfahrens
gegebenenfalls folgenden Anfechtungsklage) angeordnet, weil der
Eingliederungs-Verwaltungsakt eine Geltungsdauer von MEHR ALS 9
MONATEN!! haben sollte.
Hier das Urteil des Sozialgerichts: http://euronia.com/images/pdfs/sozialgericht-chemnitz.pdf
Bemerkenswert ist hieran vor allem ein Satz aus dem Urteil, der bereits
auf ein sehr intelligentes Klageverfahren hinweist: "Der auf Anordnung
der aufschiebenden Wirkung des zugleich mit dem Antrag auf einstweiligen
Rechtsschutz eingelegten Widerspruches gegen den Verwaltungsakt vom
09.04.2014 gerichtete Antrag ist zulässig und begründet."
Der Kläger hat hier also ZEITGLEICH Widerspruch eingelegt und PARALLEL SOFORT geklagt.
Diese Taktik ist natürlich WESENTLICH besser, als sich erst langwierig mit dem Jobcenter im Widerspruchsverfahren zu streiten.
Gemäß § 88 Absatz 2 SGG hat das Jobcenter nämlich gegebenenfalls bis zu 3 Monate!
Zeit, über den Widerspruch zu entscheiden, und es wäre nicht das erste
Mal, dass das Jobcenter diese Zeit auch nur deswegen ausnutzt, um einen
auch offensichtlich rechtswidrigen Verwaltungsakt - wie er in diesem
Fall deutlich vorlag - schlicht und einfach über mindestens diesen
Zeitaum "hinweg zu retten" und dann mal wieder die beliebten
"Sanktionen" zu versuchen.
Im vorliegenden Fall vergingen vom
Erlass des Verwaltungsaktes bis zu seiner vorläufigen Aufhebung bzw.
Nicht-Vollziehbarkeit aber ganze 20 Tage!!!
Eine "Nichtigkeitsfeststellungsklage" - ist also außerordentlich effizient!
WICHTIG: diese Klageart "funktioniert" NUR, wenn Ihr den Widerspruch
ZUSAMMEN mit der Klage ans SG schickt. Intelligenterweise wird hier
gleich beantragt, die Klage gleichzeitig als Widerspruch umzudeuten und
zuzulassen. Dann spart Ihr Euch einen separaten Widerspruch KOMPLETT.
Wenn Ihr den Widerspruch auch nur separat ans JC abschickt, wird das
Gericht diese spezielle Feststellungsklage aus FORMALEN GRÜNDEN
ablehnen, da eine Feststellungsklage IMMER "nachrangig", d. h., erst
zulässig ist, nachdem alle anderen möglichen Klagearten bereits
ausgeschöpft wurden.
Nur WEIL VORHER kein separater Widerspruch
ans Jobcenter abgeschickt wurde, ist diese Klage überhaupt zulässig,
WEIL unter diesen Umständen die "normale" Anfechtungsklage, die erst
NACH Durchlaufen des Widerspruchsverfahrens statthaft ist, nicht möglich
ist.
(Hinweis: natürlich wäre es auch möglich gewesen, einen
"normalen" Widersrpuch ans Jobcenter zu schicken und PARALLEL die
aufschiebende Wirkung nach § 86b SGG beim Sozialgericht zu beantragen.
Wozu sich aber zweimal bemühen? Außerdem hat das Verfahren mit der
Feststellungsklage auch noch einen psychologisch-taktischen Vorteil: das
Jobcenter erfährt ERSTMALIG über das Sozialgericht, dass überhaupt
Widerspuch erhoben wurde. Das freut die gleich mal richtig
Ich möchte Euch auch nicht die Reaktion der RECHTSABTEILUNG des
Jobcenters vorenthalten, weil die mal wieder so typisch ist, wie sie
typischer nicht sein könnte: das Jobcenter, bzw. hier der zuständige
Jurist (der "irgendwann mal" Jura studiert hat), schert sich
offensichtlich überhaupt nicht um Recht und Gesetz: http://euronia.com/images/pdfs/jobcenter-mittelsachsen.pdf
Bemerkenswert ist zunächst, dass der Kläger versuchte, mit dem Jobcenter über die EGV zu VERHANDELN.
Das Jobcenter stufte - wie üblich - seine Vorschläge anscheinend wohl
als "unakzeptabel" ein (richtiges Deutsch wäre hier bereits
"inakzeptabel", aber in einem Land, in dem die Amtssprache angeblich
Deutsch ist und Jobcenter dann trotzdem Jobcenter heißen, muss man sich
auch nicht mehr darüber wundern, dass die Jobcenter-Mitarbeiter kaum
noch richtig Deutsch können) und erließ "folgerichtig" den
Eingliederungs-Verwaltungsakt.
OBWOHL der Kläger bereits in
seinen Anträgen auf die OFFENSICHTLICHE Rechtswidrigkeit dieses
Verwaltungsaktes wegen der deutlich zu langen Geltungsdauer UND ein
entsprechendes Urteil des Bundessozialgerichts hinwies - die ja dann
auch genau vom Sozialgericht mit eben diesem Urteil bestätigt wurde -
schließt der formidable Jobcenter-Jurist seine "rechtlichen"
Ausführungen mit dem Satz: "Der Antragsgegner sieht keine Möglichkeit,
seine Entscheidung abzuändern oder aufzuheben."
Da bleibt mir
wieder nur zu sagen: Bravo, Jobcenter! Wieder eines mehr, das meinen
lange gehegten Verdacht, dass Jobcenter bundesweit sogar eindeutig
festgelegtes SGB-Recht jederzeit (absichtlich?) mit Füssen treten,
eindrucksvoll bestätigt.
Das angesprochene BSG-Urteil findet Ihr hier. "http://euronia.com/images/pdfs/BSG%20B%2014%20AS%20195.pdf"
Es wird aber noch besser: Der Kläger bemängelte u. a. folgendes: [Die]
"Tatsache, dass der Beklagte im angefochtenen EGV-VA mit folgender
Formulierung unter Umgehung sämtlicher Regularien des Rechtsstaates und
der Rechtssicherheit versucht, aus einer ursprünglich mit "nur" 10%
sanktionierbaren "Pflichtverletzung" ohne jede Not eine 30% Sanktion zu
konstruieren: "Ich erscheine zu jeglichen Meldeterminen im Jobcenter
Mittelsachsen Standort Freiberg pünktlich und zuverlässig. Sollten ich
Termine nicht wahrnehmen können, bin ich verpflichtet meinen zuständigen
Arbeitsvermittler vorab eine Information darüber zu geben. Ebenfalls
wurden ich belehrt, dass Termine nur aus wichtigen Gründen nicht
wahrgenommen werden müssen" etc." (Beachtet hier wieder mal das
"Deutsch" des Jobcenters: Grammatik und Interpunktion aus meiner Sicht
eine glatte "Fünf")
Diesen schwerst rechtswidrigen und aus
meiner Sicht bereits an "Nötigung" grenzenden Passus (schaut Euch aber
den "Nötigungs-Strafrechtsparagraphen GENAU an; der trifft hier, so
bedauerlich das aus meiner Sicht ist, NIEMALS zu) versucht das Jobcenter
nun auf einmal als "Hinweis" umzudeuten und zu verniedlichen. Hilfloser
geht´s nimmer, oder doch?
Doch, es geht sogar noch hilfloser:
Nahezu SÄMTLICHE Verpflichtungen des Jobcenters - immerhin sprechen wir
FORMAL von einer angeblichen Vereinbarung als Grundlage des
Eingliederungs-Verwaltungsaktes - waren - typischerweise - als
"Kann-Bestimmungen" ausgeführt oder anderweitig niemals einklagbar
formuliert, beispielsweise mit den "berühmten" Jobcenter-Floskeln
"angemessen", "sofern möglich" etc. etc.
Hier erdreistet sich
das Jobcenter nun sogar zu folgender Aussage: "Durch die zuständige
Arbeitsvermittlerin waren dem Antragsteller keine Förderteislungen nach §
16 Abs. 1 SGB II zugesichert worden. Aus vermittierischer Sicht bestand
dazu keine Notwendigkeit bzw. keine Zweckmäßigkeit. Im Rahmen ihrer
Aufklärungs- und Beratungspflicht im Sinne von §§ 13, 14 Erstes Buch
(SGB I) wies sie den Antragsteller jedoch auf mögliche, zu beantragende
Förderietslungen hin."
Das Jobcenter ist hier also sogar der
Meinung, ÜBERHAUPT keine Gegenleistungen erbringen zu müssen, ja es
bestand dazu noch nicht einmal eine "Notwendigkeit" bzw.
"Zweckmäßigkeit". Da das Jobcenter aber keinesfalls in den - insgesamt
mehr als gerechtfertigten Verdacht - kommen möchte, Recht zu missachten,
hat es nun sogar quasi freiwillig und aus reiner "Nettigkeit" seine
"Aufklärungs- und Beratungspflicht im Sinne von §§ 13, 14 Erstes Buch
(SGB I)" wahrgenommen.
WAS FÜR EIN ARMUTSZEUGNIS.
Also, die Moral von der Geschicht:
Prüft Eure Eingliederungs-Verwaltungsakte SEHR SORGFÄLTIG auf mögliche
Rechtsmängel. Selbst im Jahre 10 nach Einführung von "Hartz-IV" sind die
anscheinend IMMER NOCH AN DER TAGESORDNUNG.
Je rechtswidriger
die Jobcenter immer noch agieren zu können glauben, desto besser für
uns, weil sie es uns damit absolut leicht machen, uns einen Teil
Freiheit wieder zurück zu holen...
(Quelle: euronia.com)
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