Sonntag, 22. Juni 2014

Schluss mit den Strafen für Schwache

Dass der Staat Hartz IV-Empfängern, die einen Job ablehnen, pauschal die Sozialhilfe kürze, sei menschenverachtend, kommentiert Ines Pohl von der "taz" im DLF.
Statt Arbeitslose, die vielfach unter psychischen Krankheiten litten, pauschal zu bestrafen, müsse mehr auf deren einzelne Schicksale eingegangen werden.

Vor der Agenda 2010 beruhten die Sozialsysteme in Deutschland auf einem einfachen Grundprinzip: Alle zahlen in einen Topf ein - und wenn jemand in Not gerät, weil er krank ist oder ohne Einkommen, wird in den Topf gegriffen, um in der Notlage zu helfen. Warum Menschen in diese Notsituation geraten waren, das wurde nicht gefragt. Dass es Einzelne gab, die dieses System ausnutzten, wurde akzeptiert, unverantwortliches Verhalten war schlicht einkalkuliert.

Mit der Einführung von Hartz IV und den damit verbundenen Sanktionen wurde der Blick auf Arbeitslosigkeit ganz grundsätzlich verändert. Aus den Millionen Menschen, die ohne Arbeit waren, wurden Millionen Arbeitsunwillige, Millionen Schmarotzer, die an ihrem Unglück selbst schuld sind, der fleißig arbeitenden Bevölkerung auf der Tasche liegen und das Sozialsystem ausnutzen. Und die, so die Annahme, unter Androhung von Sanktionen zurück in den Job geprügelt werden müssen. Wir alle erinnern uns noch allzu gut an die reißerischen Titelseiten der BILD-Zeitung.

Was diese menschenfeindliche Kultur der Unterstellung mit den Betroffenen macht, wurde in dieser Woche sehr eindrucksvoll in einer Studie des Deutschen Gewerkschaftsbundes belegt. Ein Großteil der etwas mehr als vier Millionen erwerbsfähigen Menschen, die derzeit in Deutschland Hartz-IV-Leistungen beziehen, hat demnach mit massiven gesundheitlichen oder finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen. Über zwei Millionen Menschen, die von Hartz IV leben, haben Schulden- und Suchtprobleme oder kommen wegen psychischer Schwierigkeiten mit ihrer Umwelt nicht mehr zurecht.

Das ist brutal, und einer reichen Gesellschaft wie der deutschen nicht würdig. Denn so schnell einem die Zahlen auch über die Lippen gehen mögen: Wir dürfen nie vergessen, dass hinter jeder einzelnen Nummer ein Mensch steht, mit seinem ganz persönlichen Schicksal, seiner ganz persönlichen Geschichte und deren Ausweglosigkeit. Denn die DGB-Studie belegt auch genau das: wie ausweglos für viele die Abwärtsspirale ist, in der sie sich befinden.

Forderungen des Staates müssen erfüllbar sein

Das hat auch damit zu tun, dass die zentrale Idee, mit der für Hartz IV bei der Einführung geworben wurde, nicht umgesetzt wird. Anstatt die kommunalen Erfahrungen aus der ehemaligen Sozialhilfe tatsächlich mit den Kompetenzen der Arbeitsagenturen zu bündeln, wird lediglich der Ruf nach Sanktionen immer lauter, die Hilfs- und Betreuungsangebote hingegen sind miserabel ausgestattet. Auch hier liefert die Studie wichtige Denkanstöße: 450.000 Hilfsbedürftige mit Suchtproblemen gibt es, von denen aber lediglich 9.000 in Beratung sind. Ähnlich erschütternd ist die Situation bei den 900.000 Arbeitslosen mit psychosozialen Schwierigkeiten wie beispielsweise Angststörungen oder Depressionen: Hier werden gerade mal 20.000 Personen mit kommunalen Hilfsangeboten unterstützt.

Man muss keine Expertin sein, um zu wissen, dass gerade bei diesen Menschen die Androhung von härteren Sanktionen nichts Positives bewirkt. Statt zu drohen, muss der Staat die professionellen Hilfsangebote ausbauen. Denn ohne soziale Stabilisierung wird es nicht möglich sein, die Betroffenen nachhaltig in den Arbeitsmarkt zu integrieren.

Zudem müssen, wie von den Kommunen gefordert, die Hartz-IV-Bewilligungsverfahren dringend einfacher und transparenter gemacht werden. Nicht nur, damit es für die Antragsteller leichter wird. Sondern auch damit jene, die in den Jobcentern arbeiten, sich nicht primär mit juristischen und bürokratischen Detailfragen plagen müssen, sondern sich vor allem um ihre Kernaufgabe kümmern können: nämlich Menschen in Arbeit zu bringen.

Auch ein Staat, der soziale Verantwortung großschreibt, darf fordern. Keine Frage. Aber die Forderungen müssen auch erfüllbar sein. Menschen, die wegen ihrer massiven Angstzustände nicht arbeiten können, mit härteren Strafen zu drohen, wenn sie beispielsweise ein Jobangebot nicht annehmen, ist absurd. Denn es unterstellt, dass sie ihre psychischen Probleme nach Belieben an- und abschalten können. Das hat mit Arbeitsmarktpolitik nichts zu tun, wohl aber mit Menschenverachtung.

Anmerkung der Redaktion:

Diesem bemerkenswerten Artikel von Ines Pohl aus der TAZ, kann man sich nur vollumfänglich anschließen;
Menschen die tagtäglich mit der Angst leben müssen, nicht zu wissen; "was wird Morgen sein", oder "wie bekomme ich meine Kinder über die Runden", uvm. fangen an sich zurück zu ziehen. Sie leben in ihrer eigenen Welt und scheuen den Kontakt zur Außenwelt. Sie drehen sich in einer Spirale aus Demütigung, Angst und Hilflosigkeit, wohlwissend das sie nur überleben, wenn sie funktionieren!
Hartz IV ist kein ruhiges Leben, sondern aufgrund seiner Komplexität schlichtweg ein täglicher Überlebens- und Existenzkampf im Dschungel der § geworden, den viele (zu viele) nach und nach verlieren!
Die Folgen daraus sind bekannt; Verzweiflungstaten wie Selbstmord, Gewalt gegenüber dritten (u.a. Arbeitsamtmitarbeiter), Alkoholismus, Drogen und Straftaten wie Diebstähle, sind nur einige, die zu benennen sind!
Dieser Kreislauf wird nur, aber auch wirklich nur dann, zu durchbrechen sein; wenn der Staat erkennt, das nur individuell auf den Einzelfall zugeschnittene Hilfestellungen, dem Menschen helfen können.
Und:
Der Politik würde mehr Ehrlichkeit gegenüber allen Bürgern gut zu Gesicht stehen! Nämlich, wenn er von der "Lüge des Arbeitsfaulen" endlich abrückt und ganz deutlich zugibt;
Es gibt nicht genügend bezahlte Arbeit für alle! Diese Zeit, "im Zeitalter der Computer und Roboter" ist einfach vorbei!
Deshalb muss das Thema "Grundsicherung für alle" immer im Kontext der tatsächlichen Arbeitsmarktlage betrachtet werden und da ist die Zukunftsprognose unstrittig.
Es wird nie wieder genug Arbeit für alle geben und deshalb ist eine bedingungslose Grundsicherung, gekoppelt mit zB: ehrenamtlichen Tätigkeiten nach meiner Auffassung, die einzig logische Zukunftsvariante!

Euer P.F.


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